Tätigkeits-Trance

Foto: Pixabay

Zwei Erlebnisse in der letzten Woche haben mich dazu angeregt, diesen Artikel, der einer meiner ersten hier im Blog war, wieder vor zu holen.
Während eines Seminars zum Thema „Medienkompetenz und Verhalten im Internet“ ist zwischen meinen Teilnehmern eine lebhafte Diskussion darüber entstanden, ob das Leben ohne Handy heutzutage überhaupt möglich ist und inwieweit wir bereits Abhängigkeiten entwickelt haben.
Und bei einem Bühnenprogramm, dass ich besucht habe, spracht der Comedian von einem Gefühl, dass es in den 90ern noch gab – aber heute gänzlich unbekannt (auf jeden Fall aber unbeliebt) zu sein scheint: Langeweile.

Tatsächlich scheinen wir immer „on“ zu sein. Jede Minute, jede Sekunde optimal genutzt!
Betriebsamkeit ist populär. Jeden Moment füllen – mit Eindrücken, Tätigkeiten, Bewegung. Durch Input von außen oder durch unsere eigene Geschäftigkeit.

Im Wartezimmer beim Arzt läuft der Fernseher – und verkauft die neuesten IGeL Leistungen. Kleinere Leerläufe – z.B. beim Warten auf den Bus oder in der Schlange beim Bäcker – werden gefüllt, um nochmal aufs Handy zu schauen. Im Zug ein Buch lesen, einen Podcast hören, E-Mails abarbeiten oder in der überfüllten U-Bahn noch schnell  dieses wichtige Telefonat führen (gestern live erlebt) … Zuhause dudeln nebenher Radio oder Fernseher und im Arbeitsalltag helfen Kollegen und Chefs, dass jeder Moment gefüllt wird.

Weil wir sie lassen.

Den Hunger nebenbei und auf dem Sprung ins nächste Meeting noch schnell mit der mitgebrachten Stulle betäubt.

Nacheinander arbeiten wir ab sie ab, die Pflichten, Aufgaben, Tätigkeiten.
Wie in Trance.
Wie ferngesteuert.

Unser Kopf scheint immer schon einen Schritt weiter oder beim nächtsen Programmpunkt zu sein. Und obwohl er präsent auf unserem Hals ruht ist er gerade das so oft nicht: PRÄSENT.

Und falls ich dann mal ein ungefüllter Moment andeutet, fühlt es sich schon beinahe komisch an. Es scheint fast, als betäuben wir uns mit dieser Tätigkeits-Trance, weil uns die Stille ungewohnt geworden ist.

Im schlimmsten Fall ist unser System dann so überdreht, dass es nicht mehr in der Lage ist, alleine runter zu fahren. Dann kommt nach Feierabend nicht selten Alkohol ins Spiel.
Direkter Übergang von der mentalen Betäubung in die körperliche.
Nicht falsch verstehen – ein leckerer Wein in gemütlicher Atmosphäre – wie schön! Nur wenn du dich dabei beobachtest, wie Du regelmäßig dazu greifst, damit die Atmosphäre gemütlich wird, solltest Du Dir Gedanken machen.

Wie konditioniert fragt sich unser Geist kontinuierlich – und was jetzt?

Nix.
Einfach mal nix.

„..und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach da zu sitzen und vor sich hin zu schauen.“

Astrid Lindgren

Wann hast Du das letzten Mal einfach nur dagesessen?
Kannst Du Dich noch an das Gefühl der Langeweile erinnern?
Lasse doch mal Stille zu und schaue, was sich zeigen möchte.
Keine Musik im Hintergrund, kein Smartphone, Tablet, e-Reader oder Buch in der Hand.

Einfach mal nur sein.
Pause machen.
Wahrnehmen, was jetzt und hier ist.
Nachspüren. Reinhören. Wirken lassen.
Inputfreie Zeit.

Um wieder in Kontakt zu Dir und deinen Bedürfnissen zu kommen.
Wenn Du Deine innere Stimme hören willst, musst Du Ihr auch die Chance geben, zu Wort zu kommen. Ist vielleicht nicht immer angenehm, was sie zu sagen hat, aber sollte immer gehört werden. (Sonst beschwert sie sich über Umwege bei Deinen Rückenmuskeln, Deinem Magen, Deinem Kopf oder anderen Teilen Deines Körpers, die Dir Probleme machen, wenn Du Deine Bedürfnisse übergehst ;-))

Außerdem ist es paradox: wie sind der Überzeugung, dass wir aus unserem Hirn das beste rausholen, wenn wir jeden Moment nutzen/füllen. Dabei sinkt unsere mentale Kapazität und Leistungsfähigkeit mit der Dauer der Belastung. Mehr noch: unser Hirn braucht nachweislich Leerläufe, um kreativ zu sein.

Also …

Sitz mal rum.
Gönn Dir Langeweile.

Was auch immer Du tust – sei gut zu Dir!

Deine Birgit