Und auch diese Woche beginnt mein Artikel mit einer Geschichte, weil sie wie ich finde die perfekte Einleitung für das heutige Thema ist. Die Geschichte ist nicht aus meiner Feder, sondern so reproduziert, wie ich sie einst selbst gehört habe.
Es war einmal ein Paar, das lebte in einem großen Haus mit mehreren Etagen. Eines Abends bereitete der Mann in der Küche im Erdgeschoß das Essen zu, während die Frau sich noch anderen Aufgaben im Arbeitszimmer in der ersten Etage widmete. Als das Essen fertig war, rief der Mann wie vereinbart seine Frau zu Tisch. „Essen ist fertig“ tönte es durchs Haus. Dann wurde es wieder still. Der Mann begann, während er auf die Frau wartete, mit dem Anrichten der Teller. Dann versuchte er es erneut: „Hej, kommst Du bitte zum Essen bevor es kalt wird?“ Wieder folgte seinen Worten Stille. Da merkte der Mann, wie langsam Ärger in ihm hochkroch. Das war wieder typisch! In letzter Zeit hatten sie schon öfter über das offensichtlich nachlassende Gehör der Frau gesprochen. Ohne Erfolg. Nichts hatte sie seither gemacht, kein Besuch beim Arzt, kein Check beim Akustiker, nichts. Er beschloss, noch einmal nach seiner Frau zu rufen – diesmal dazu aber ins Treppenhaus zu gehen. Als er die Tür zum Treppenhaus öffnete, erschrak er, denn seine Frau stand direkt vor ihm. „Du solltest echt mal zum Ohrenarzt“, bäffte der Mann – „hast Du mich nicht gehört?“ – „Doch, ich habe Dich gehört“, antwortete die Frau, „und ich habe Dir dreimal geantwortet…“
Besser kann man nicht beschreiben, was die Psychologie als „Projektion“ bezeichnet.
Projektion bedeutet, dass ich mich über Verhalten oder Eigenschaften einer anderen Person aufrege, die ich mir selbst vorenthalte, nicht zugestehe oder mit denen ich selbst noch nicht im Reinen bin. Man könnte auch sagen, ich rege mich auf, WEIL ich sie mir selbst vorenthalte. Dieses „Aufregen“ kann unterschiedlich daherkommen. Als abschätziger Kommentar („Wie kann man nur so egoistisch sein, und einfach pünktlich Feierabend machen …“), als besserwisserische Erklärung („In dem Alter sollte man lieber keine so flippigen Klamotten mehr tragen …“) oder als überbetonte Distanzierung („Das käme mir nie in den Sinn!“). Besonders letztere zeigt sehr schön, was Projektion eigentlich ist: ein Abwehrmechanismus. Wir projizieren eigene innere Themen und Konflikte, indem wir unserem Gegenüber unsere unterdrückten Emotionen, Affekte, Wünsche und Impulse, die im Widerspruch zu unseren oder gesellschaftlichen Normen stehen können, unterstellen. So lenken wir automatisch von uns selbst ab – und von dem unangenehmen Gefühl, dass wir uns eigentlich selbst mit dem Thema beschäftigen sollten.
Projektion geht übrigens auch im positiven Sinne: In diesem Fall projiziere ich all das auf mein Gegenüber, was ich mir von ihm/ihr wünsche. Nicht selten kommt es dann zu Enttäuschungen, wenn sich meine „positive Unterstellung“ nicht bewahrheitet (und manchmal kippt sie dann in eine negative).
Insofern ist Projektion eine Killer für den wahren Dialog mit meinem Gegenüber – denn ich höre auf, den anderen wirklich zu sehen sondern nutze ihn als Arena für meine eigenen Themen.
Wenn mir dies bewusst ist, kann Projektion aber auch zugleich ein hilfreicher Hinweis auf einen inneren Dialog sein, den ich mit mir selbst noch führen sollte.
Denn wenn ich z.B. tatsächlich für mich beschlossen habe, dass ich in meinem Alter keine flippigen Klamotten mehr tragen möchte, kann ich das ja tun – und mir kann egal sein, wie andere das handhaben. So lange ich von meiner Entscheidung überzeugt bin, ist doch alles gut, oder? (Einzige Ausnahme: wenn das Verhalten oder die Eigenschaften des anderen mich persönlich tatsächlich in irgendeiner Form beeinträchtigen).
Also – wenn Du Dich das nächste Mal über jemanden oder etwas aufregst oder empörst sieh es als spannende Einladung, mal hinter Dein Gefühl zu schauen und Dich zu fragen: was sagt das über MICH aus?
Nutze den Blick in den Projektionsspiegel, um Dich „aufzuhübschen“ und ihn dann zu Seite legen zu können, damit Du mit Deinem Gegenüber eine echte Verbindung eingehen kannst.
Sei gut zu Dir,
Deine Birgit