Reflexion statt Reaktion

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Wir leben in einer „Erregungsgesellschaft“* und im „postfaktischen Zeitalter“. Beide Begriffe lösten eine Reaktion in mir aus, als ich sie zum ersten Mal las. Folgende Gefühle stiegen in mir auf:

  1. Betroffenheit: beide Begriffe enthalten Aussagen über Emotionen – und Emotionen sind das Herz meiner Arbeit
  2. Zustimmung: die grundsätzliche Bedeutung beider Begriffe kann ich nachvollziehen. Aber da war auch noch …
  3. Besorgnis: wie werden Emotionen bewertet, wenn wir uns diese beiden Aussagen über unsere Gesellschaft näher betrachten?

Emotionen sind eine zentrale Kraft in unserem täglichen Leben  – bewußt oder unbewußt. Im Optimalfall nehmen wir sie wahr und an, verstehen und nutzen ihre Bedeutung und lassen sie dann wieder los. Gelingt es uns nicht, sie so in unser Handeln und Entscheiden zu integrieren,  finden sie in der Regel ihren ganz eigenen Weg, sei es, dass sie uns wie eine subversive Kraft steuern oder sich schlimmstenfalls in körperlichen Beschwerden manifestieren.

Emotionen sind Richtungsweiser, sie sind wie Zündkerzen für den Motor unserer Entscheidungen und unseres Handelns. (Nicht umsonst beinhaltet Emotion das Wort motion = Bewegung). Den Zündfunken effektiv zu nutzen bedeutet, über emotionale Intelligenz zu verfügen.

Die beiden eingangs genannten Begriffe lassen aber eher vermuten, dass wir mehr und mehr „das Gefühl für’s Gefühl“ verlieren. Emotionen dienen nicht mehr als Hinweis sondern nehmen uns voll und ganz ein. Wir werden vom Zündfunken komplett in Brand gesetzt anstatt seine Energie in die richtige Brennkammer zu leiten. Das ist wie eine Art Fehlzündung – viel Lärm, aber wenig Wirkungsgrad. Gefühle wie Wut, Angst und Hilflosigkeit werden nicht als solche wahrgenommen und ergründet sondern automatisch umgeleitet in Empörung, Erregung und Beschuldigung. Das mag sich im ersten Moment gut anfühlen – doch tatsächlich erreichen wir damit nichts – außer einem schlechten Zustand, der eher hinderlich als hilfreich ist – sowohl für die Sache oder unser Gegenüber, als auch für uns selbst.

Klar, sich zu empören geht schnell, ist einfach und ein bisschen wie eine Tüte Chips – schmeckt zu gut, und wenn man mal angefangen hat, kann man kaum mehr aufhören. Aber wir wissen auch, wie es sich anfühlt, wenn wir zuviel davon hatten und was passieren würde, wenn wir uns nur noch davon ernähren würden …

Wie können wir nun aber bei allen Reizen, die täglich auf uns einprasseln, nicht zu einem weiteren Bürger der Erregungsgesellschaft  werden sondern Differenzierung und Abgewogenheit bewahren?
Reflektieren statt Reagieren?

  1. Wollen: Wenn Du lieber weiter Chips in rauen Mengen essen möchtest und Dich gerne aufregst und empörst, kannst Du hier aufhören zu lesen. Wenn Du etwas ändern möchtest, weil Du für Deine innere Balance sorgen möchtest, damit Du handlungsfähig und gesund bleibst, dann weiter mit Punkt 2
  2. Zünder finden: Welche Menschen, Situationen, Darstellungen, Verhaltensweisen zünden Dich? Welche Geschichte erzählst Du Dir über diese(n) Menschen, diese Situation oder Verhaltensweise? Oder welche Geschichte wird Dir über diese Situation oder diese(n) Menschen erzählt, die Dich zündet? Was genau macht das mit Dir? Was fühlst Du? Wie reagierst Du?
  3. Zündfunken lenken: Ist die Situation, das Thema oder der Mensch relevant und wichtig für Dich? – Wenn nein, lass los! Wenn ja, frage Dich … Was ist dran an der Geschichte, die Du Dir über diesen Menschen oder diese Situation erzählst oder die Du erzählt bekommst? Ist sie plausibel? Gibt es Beweise? Wie könnte sie noch erzählt werden? Welche anderen Möglichkeiten, das Wahrgenommene zu erklären, gibt es noch? Und was macht das mit Dir? Was fühlst Du jetzt?
  4. Gang einlegen – oder im Leerlauf bleiben? Siehst Du Handlungsbedarf? – wenn nein, laß los. Wenn ja, überlege … Was kannst Du beeinflussen und tun? Was wirst Du tun? Wann? Los!

Ja, sich zu empören ist einfacher.

Zu hinterfragen, sich zu entdecken und in Balance zu halten ist aber soviel gesünder und förderlicher – für das eigene Wohlbefinden, das menschliche Miteinander und die Erweiterung Deines Horizonts.

Laß Dich von Deinen Emotionen zünden – aber nicht anzünden und bleib neugierig!

Deine Birgit

*aus Dieter Nuhr, „Gut für Dich. Leitfaden für das Überleben in hysterischen Zeiten.“ Lübbe, 2019

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