Das Glück ist ein scheues Reh

Foto: Pixabay

Diese Woche möchte ich mich zunächst einmal bei all denen bedanken, die sich die Zeit genommen haben, mir Rückmeldung zu meinem Blog zu geben. Ich habe Euch gehört und auch den gewünschten Themen werde ich in den kommenden Wochen Zeit und Text schenken!

Es geht weiter in Blogartikeln – heute allerdings in etwas anderer Form, denn nach etwas längerer Zeit ist mir wieder einmal eine Kurzgeschichte aus den Fingern geflossen.

Meine Gedanken zu den Fragen „Was bedeutet Glück für mich“, „Wie kann ich Bedingungen schaffen, um es einzuladen“ und „Wird es bleiben?“ haben diese Geschichte hervorgebracht.

Am Ende dieses Eintrags (Browser Ansicht) findest Du sie auch im Audio-Format – falls Du lieber hören als lesen möchtest.

Viel Freude beim Lesen oder Hören,

Deine Birgit


Es war einmal, vor gar nicht allzu langer Zeit an einem gar nicht allzu fernen Ort ein kleiner Junge, dessen größtes Glück und größter Wunsch war es, einmal ein freies Reh zu sichten.
Also beschäftigte er sich fortan Tag und Nacht damit, wie ihm dies gelingen könnte. Er studierte, wo Rehe zu finden sind, wann die Wahrscheinlichkeit, sie zu sehen, besonders groß ist und was sie besonders gerne mögen. In kurzer Zeit war er zum wahren Spezialisten für Rehe geworden. Er wusste alles über sie – einzig gesehen hatte er noch keines.

So machte er sich mit all seinem Wissen auf den Weg in den Wald und suchte nach einer passenden Lichtung. Als er diese, fernab von Fußwegen, gefunden hatte, bereitete er alles vor. Er drapierte Futter an einer geeigneten Stelle – gut einsehbar und dennoch nicht zu weit vom dichteren Gebüsch entfernt. Als er alles vorbereitet hatte, setzte er sich daneben und wartete. Wenn es passierte, wollte er es ganz nah erleben. Und so harrte er aus. Geduldig. Drei Tage lang. Aber nichts geschah. Kein Reh ließ sich blicken. Nicht einmal irgend ein anderer Waldbewohner näherte sich der Futterstelle. Als der kleine Junge schließlich, traurig und etwas resigniert, am dritten Tag der Futterstelle in der Dämmerung den Rücken kehrte, vernahm er ein Rascheln im Gebüsch und ein leichtes Schwingen des Waldbodens. Er hielt den Atem an. Er blieb stehen und drehte vorsichtig seinen Kopf, die Füße noch immer an der selben Stelle verwurzelt.

Da war es, tatsächlich, endlich! Ein prachtvoller Rehbock. Groß, sanft, in einem warmen Braun, mit scheuem Blick und aufrechtem Gang. Trotz seines Gewichts schienen seine Schritte federnd leicht. Es senkte den Kopf, um zu fressen und hob ihn nach jedem Bissen wieder, um die Umgebung zu beobachten. Fasziniert von der Erscheinung und erfüllt vor Glück wollte der kleine Junge es genauer betrachten und machte einen Schritt in Richtung Futterstelle.
Das laute Knacken eines Astes unter seinen Füßen unterbach die vollkommene Situation jäh. In drei großen Sprüngen floh das Reh ins Gebüsch und war verschwunden.

„So kurz der Moment und doch so wunderbar!“ dachte der kleine Junge. Nun war seine Sehnsucht erst recht geweckt. Er wollte es noch einmal versuchen, es noch einmal erblicken – und es nicht wieder so leicht davonspringen lassen!
Er wußte ja nun, wie es geht.

Und so nahm er eine kleine Änderung vor, begab sich erneut in den Wald auf jene Lichtung und  bereitete alles mit viel Geduld und Fleiß vor. Er wartete bis zur Dämmerung – diesmal aber im Verborgenen.
Und tatsächlich, da war es wieder, das Rascheln, das prachtvolle Geschöpf, der scheue Blick. Das Herz des kleinen Jungen sprang vor Glück! Er wollte ihm näher kommen, es anfassen, es für immer bei sich haben. Diesmal würde es ihm nicht entkommen.
Und als das Reh gerade einen weiteren Happen naschte, lies der kleine Junge einen Käfig auf es herabfallen, den er zuvor gebaut hatte. Das Tier zuckte verschreckt und wollte fliehen – aber es gab kein Entkommen mehr. Nun konnte sich der kleine Junge nähern, ohne dass es davon lief. Er betrachtete es, sein glänzendes Fell, seine großen Augen, die feuchte Nase, die zarte Glieder.
Als er die Hände durch das Käfiggitter streckte, um es zu streicheln, wich es zurück.
Es wird sich schon an mich gewöhnen, dachte der kleine Junge, und setzte sich neben den Käfig. Geduldig verharrte er dort einen Tag und eine Nacht.  Bei Anbruch des nächsten Tages merkte der Junge, dass das Reh tatsächlich ruhiger geworden war.
Aber es hatte sich noch mehr verändert. Was er wahrnahm war keine vertrauensvolle, zugewandte Ruhe. Das gesamte Tier hatte sich verändert. Auch sein Anblick versetzte ihn nun nicht mehr in Glück sondern durchflutete ihn mit tiefer Traurigkeit. Das Fell schien seinen Glanz verloren zu haben, die leichtfüßigen Hufe waren schwer in den Waldboden eingesunken und auf die tiefbraunen Augen des wunderschönen Tieres hatte sich ein grauer Schleier der Resignation gelegt. Sie hatten aufgehört, zu leuchten.
Da wusste der Junge, es war Zeit, loszulassen.
Das Glück gehörte nicht ihm alleine, es gehörte niemandem – und es ließ sich nicht einfangen oder halten.
Und so öffnete er den Käfig und entließ das Reh zurück in die Freiheit.

Er beobachtete, wie es erst etwas zögerlich, dann in kräftiger werdenden Schritten davongaloppierte – ohne zurückzublicken.
Der kleine Junge aber blieb zurück. Er roch den erdigen Duft des feuchten, frisch aufgewühlten Waldbodens, spürte die leichte Erschütterung des Untergrunds, die die fliehenden Hufe erzeugten und blickte seinem Glück sehnsüchtig hinterher.

Würde es je wiederkommen?


Das Glück ist ein scheues Reh